Joachim Schneider
Foto: Alexandra Rojas Gonzáles, 2016
Geboren in Frankfurt (0der)
„Nackte Häuser oder steinerne Zeitzeugen sagen eigentlich nichts.
Man muss sich auchmit den Menschen beschäftigen und das ist
eigentlich meine Spezialstrecke. Wer war denn der interessanteste
Besitzer von diesem Haus? Und da stieß ich natürlich nicht auf
den Namen Schindler, sondern auf den Namen Neumann – Siegfried
Neumann, Bettfedernfabrikant. Er besaß dieses Haus bzw. ein Teil
dieses Hauses, den hinteren Teil, nicht von Anfang an. Man bekommt
das aber raus, wenn man die Adressbücher durchsieht: Da haben wir
1922, wer ist der Besitzer? Neumann, er wohnt in der Humboldtstraße 6
(das ist aber zwei Jahre später die Humboldtstraße 11 gewesen).
Und da sieht man, wer alles hier in diesem Haus, Gubener Straße Nr. 9,
Unterschlupf gefunden hat. Dann haben wir das Jahr 1924 und da
taucht auch der Name Schindler auf, der wahrscheinlich ein Nachkomme
des ursprünglichen Besitzers Ferdinand Schindler war. Interessant ist
das Jahr 1940 bei den Adressbüchern. Da haben wir eine Frau Sommerfeld
als Eigentümerin. Man sagte auch vorher schon, sie ist ein Strohmann bzw.
eine ‚Strohfrau’. Eine Person, die eigentlich vorgeschoben ist.“
"Hängt das mit dem Reichsarbeitsdienst zusammen?"
"Genau. Der Reichsarbeitsdienst hat dann hier sein Quartier gehabt,
er ist ja staatlichgewesen. Wahrscheinlich wollte der Staat hier nicht
als Eigentümer erscheinen. Und Frau Sommerfeld, die es vielleicht gar
nicht gegeben hat, man weiß es nicht, ist Eigentümerin. Da ist also der
Reichsarbeitsdienst in diesen Gebäuden, weiter keiner. Dann gab es
ein Depot des Pharmazeutischen Zentrums, das war in den Jahren 1950
bis 1989, in diesem Zeitraum. Und es gab für die Bevölkerung noch einen
ganz interessanten Betrieb und das war eine Schnapsbrennerei. Der erste
Betreiber hieß Graßmann.“
"War das Wigra?"
"Wigra war die Abkürzung, ja. Die Schnäpse, die sie produziert haben,
die hatten skurrile Namen."
"Blauer Würger!"
"Das hat Ihnen jemand erzählt. Das hat dann VEB Bärensiegel übernommen,
das wurde verstaatlicht. Wann das Bärensiegel geworden ist, wissen wir nicht.
Aber die Firma hatte einen kleinen Kulturraum, wo die sozialistischen
Brigaden aus der Volksarmee ein bisschen feiern konnten – also
Brigadeabende. Das war Mitte der 1980er Jahre. 20 Mann waren wir
und da gab eine Verkostung der ganzen Erzeugnisse.
"Was wünschen Sie sich für die Zukunft der Gebäude?"
"Dass hier eine Mischnutzung entsteht – Gewerbe und Wohnungen. Wenn
man sieht, wieviel Leute hier gewohnt haben, muss es doch möglich sein,
einen Teil des Komplexes wieder in Wohnungen umzubauen.“
„Herr Schneider, vielen Dank für das Interview.“