1947 BIS 1990ER JAHRE
Wigra – Wilhelm Graßmann KG, Spirituosenfabrik Frankfurt (Oder)
Der Frankfurter Kaufmann und Destillateur Wilhelm Graßmann erhielt am 22. 4. 1947 die Eintragung eines lebenslänglichen Nießbrauchrechts in das Grundbuch des Grundstücks Gubener Straße 9.
In einem Artikel der Märkischen Oderzeitung erinnerte sich 2010 ein Leser, dass Graßmann vorher in der Großen Oderstraße einen Wein- und Spirituosenhandel betrieben hatte. Diese Geschäftsräume wurde gegen Kriegsende 1945 im Zuge der Kampfhandlungen wie fast die gesamte historische Innenstadt Frankfurts zerstört. (Kotterba, 2010)
Die Liegenschaft Gubener Straße 9 mit ihren Gebäudeteilen blieb von Kriegszerstörungen verschont und so konnte Graßmann ab 1947 die Produktion von Spirituosen aufnehmen. Daneben ließ er Fruchtsaft, Most und weinhaltige Getränke herstellen.
Das Vorderhaus an der Gubener Straße 9 nutzten nun die Graßmanns als Wohnhaus: im Erdgeschoss die junge Familie Graßmann (Sohn Rudi und Ehefrau Helga mit Tochter), oben Wilhelm Graßmann mit Frau.
Rein baulich wurde an den einzelnen Gebäudeteilen außen kaum mehr etwas verändert. Das ehemalige Kessel- und Maschinenhaus im Hof erhielt zu DDR-Zeit Richtung Norden einen wellblechgedeckten Anbau, und an der Rückseite des ehemaligen Brauereigebäudes wurde zum Garten hin ein neues Maschinengebäude errichtet (ehemalige Schindler’sche Tenne).
Aufgrund des Flachdachs und dem jahrelangen Leerstand nach der Wende musste dieser Gebäudeteil wegen seiner schlechten Erhaltung abgetragen werden. Das Kellergeschoss des ehemaligen Maschinengebäudes mit seinem Mauerwerk ist noch vorhanden. (Dinse, 2017)
Auf dem Weg zum volkseigenen Betrieb
In der zweiten Hälfte der 1950er Jahre forcierte die DDR-Regierung mit mehr oder weniger großem Druck die staatliche Beteiligung an bisher privaten Unternehmen. So wurde Wigra 1959 eine halbstaatliche Einrichtung. Willi Graßmann schied 1962 aus dem Betrieb aus, sein Sohn Rudi Graßmann produzierte bis 1972 weiter. Unter anderem wurden seit 1963 die beiden beliebten Erfrischungsgetränke „Vipa“ (mit Weißwein-Anteil) sowie „Virola“ (mit Rotwein-Anteil) hergestellt. 1972 erfolgte die letzte Welle der Zwangsverstaatlichung in der DDR: Aus der ehemals privat geführten Getränke- und Schnapsproduktion wurde schließlich der „Betriebsteil Frankfurter Spirituosenfabrik“ des VEB Bärensiegel Berlin. (Höfer, 2003)
Vermutlich im rückwärtigen Gebäudeteil des Hofes (ehemaliges Brauhaus hinter dem Schornstein) war zudem das Versorgungsdepot für Pharmazie und Medizintechnik Berlin, Standort Frankfurt (Oder) untergebracht.
Der Frankfurter Wolfgang Mücke kann sich an folgende Gebäudenutzungen zur Zeit des VEB Bärensiegel Berlin erinnern:
Im Erdgeschoss des ehemaligen Wohnhauses Gubener Straße 9 befand sich das Büro von Betriebsleiter Norbert Kubin, ein Büro für den stellvertretenden Leiter, Jochen Baumann, sowie ein weiteres Büro für die Sekretärinnen; des Weiteren ein Aufenthaltsraum für den Chauffeur des Betriebsleiters.
Über die Treppe im Flur gelangte man in den ausgebauten Kellerraum mit Ziegelgewölbe, Kamin und schmalen Kellerfenstern zur Gubener Straße hin.
Die Räume im ersten Obergeschoss nutzte für einige Jahre die Steuerfahndung.
Im ehemaligen Kessel- und Maschinenhaus (in den Hof hineinragender Anbau) befand sich die Flaschenwaschanlage.
Im ehemaligen Brauhaus (das Gebäude hinter dem Schornstein, parallel zum Wohnhaus) war die Produktions- und Abfüllhalle für den Schnaps untergebracht (Schnaps mischen, filtern und abfüllen).
Im langen Gebäudetrakt, quer zum Wohnhaus (ehemaliges Malzhaus der Brauerei) war etwa im mittleren Gebäudeteil das Labor des VEB Bärensiegel untergebracht, erreichbar über die kleine Treppe im Hof.
Unter dem Labor war in den Gewölbekellern die Lagerstätte der großen (Holz-) Fässer mit dem Schnaps. An der Giebelseite der ehemaligen Darre, direkt an der Gubener Straße, befand sich ein Einfüllstutzen für den Tankwagen. Laut Herrn Mücke wurde hier der rohe Schnaps angeliefert und der fertige im Tankwagen wieder abgeholt.
Als Veranstaltungsraum genutzter Keller im Wohnhaus Gubener Straße 9; Foto: Martin Käferstein, 2015.
Einer der großen Kellerräume, er wurde in den 1980er Jahren für die Spirituosenproduktion gefliest.
Foto: Martin Käferstein, 2015.
Im Wohnhaus Gubener Straße 9, Erdgeschoss; Foto: Schuster Architekten, 2016.
Nach der Wiedervereinigung 1990
Der VEB Bärensiegel Berlin wurde nach der Wende abgewickelt (1994). Das Grundstück des Frankfurter Produktionsstandorts erwarb das Generalunternehmen für Industrie-, Gewerbe- und Wohnungsbau aus Berlin (IGEWO). Anfangs sollten im Zuge des Aufbaus Ost Wohnungen und Büroflächen entstehen. Dies erwies sich jedoch bald als nicht lukrativ und das „Sportzentrum Ferdinandsberg“ wurde geplant. Dafür waren großflächige Abrisse vorgesehen: Abbruch der ehemaligen Darr- und Mälzereigebäude), des Kessel- und Maschinenhauses mit Schornstein, der alten Stallungen sowie des Wohnhauses Gubener Straße 8. Immerhin sollten die alten Gewölbekeller, in welchen zu DDR-Zeiten die Schnapstanks untergebracht waren, zur gastronomischen Einrichtung „Zum Weinkeller“ umgebaut werden. Doch auch diese Pläne wurden Ende der 1990er Jahre aufgegeben, (Höfer, 2003)
Die Unterschutzstellung als Denkmal erfolgte 1991/92, doch die seit 1994 leerstehenden Gebäude verwahrlosten in den darauffolgenden Jahren zusehends. Am 8. 2. 2016 vermeldete die Märkische Oderzeitung gar: „Dichter Qualm über der Gubener Straße“ (Gutke, 2016). Im Eckhaus Gubener Straße 8 war am Sonntag, 7. Ferbruar 2016, gegen 16 Uhr ein Schwelbrand an Hintereingang und Treppenhaus ausgebrochen – die Polizei nannte fahrlässige Brandstiftung als mögliche Ursache. (Gutke, 2016)
Innenhof der Gubener Straße 9 vor der Sanierung; Foto: Martin Käferstein, 2015.
Eingangstür in das ehemalige Brauhaus; an der Tür ein Schild des medizinischen Versorgungsdepots; Foto: Martin Käferstein, 2015.
Aufzugsanlage; Foto: Martin Käferstein, 2015.
Polizei-Absperrung nach Brand im Wohnhaus Gubener Straße 8 im Februar 2016; Foto: Elisabeth Boxberger.
Literatur
Bernsau, Tanja / Dinse, Friederike / Käferstein, Martin (2015): Neues Wohnen in der alten Brauerei? In: Zentrum. Zeitschrift für das Sanierungsgebiet ehemalige Altstadt Frankfurt (Oder), 23/2015, S. 16-17.
Gutke, Thomas: Dichter Qualm über der Gubener Straße. In: Märkische Oderzeitung, 8. 2. 2016.
Gutke: Thomas: Fahrlässige Brandstiftung vermutet. In: Märkische Oderzeitung, 9. 2. 2016.
Höfer, Margrit: Bier, Bettfedern und Virola. In: Märkische Oderzeitung, 8. 3. 2003, S. 15.
Käferstein, Martin (2016): Historische Grundbücher als Informationsquelle für die Bauforschung am Beispiel der Grundbuchblätter Gubener Straße 8-9 in Frankfurt (Oder).
Hausarbeit im Fach Bau- und Kunstgeschichte, Masterstudiengang Schutz Europäischer Kulturgüter, Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder).
Kannenberg, Heinz: Wohnen und feiern im Ferdinandshof. In: Märkische Oderzeitung, 7. 2. 2017.
Kotterba, Jörg (2010): Hochprozentiges aus Frankfurt. In: Märkische Oderzeitung, 30. 6. 2010.